AMORPHIS, LEPROUS, THE MAN-EATING TREE: Nürnberg, Hirsch, 04. Januar 2012

Ein Abend mit einer richtigen Überraschung und einem hinreißenden Headliner.

THE MAN-EATING TREE

THE MAN-EATING TREE standen weit vor 20 Uhr auf der Bühne – 20 Uhr stand auf der Karte als Konzertbeginn. Nix neues im Hirsch, wie wir erfuhren. So blieben uns gut dreieinhalb Songs, um festzustellen, dass die Band um den ex-SENTENCED-Schlagzeuger und Clubbesitzer Vesa Ranta live unglaublich sympathisch ist.

So nett die Finnen wirken, es hilft nichts: Eine mitreißende Live-Band sind THE MAN-EATUNG TREE nicht. Das kann man auf die recht komplexen Songs schieben, die live einfach nicht so funktionieren wie in ruhiger Umgebung. Doch diesbezüglich belehrten uns später an diesem Abend LEPROUS eines besseren, denn sie zeigten, dass Gefrickel und Stagesacting durchaus zusammengehen können.  Man kann den Grund bei THE MAN-EATING-TREE-Sänger Tuomas Tuominen suchen – und wird schon eher fündig: Er ist nicht hundertprozentig sicher und trifft nicht immer jeden Ton ganz genau. Der Finne im gemütlich-locker sitzenden T-Shirt  macht das aber wett durch seine kumpelhafte Art und sein wunderbares Schuldeutsch, mit dem er zum Beispiel den letzten Song so ankündigte Und damit haben wir unseren Auftritt unter Dach und Fach gebracht. Dieser letzte Song war übrigens Amended von Debütalbum Vine und der doch recht komplizierte Song kam im Hirschen super an und so wie’s aussah kannten ihn auch etliche der Besucher – schön, denn diese Band hat Aufmerksamkeit verdient.

 

leprous

LEPROUS


LEPROUS
, die Band mit dem schrullig-drolligen Old-School-Logo, kamen auf die Bühne und erschreckten mich erstmal mit einstudiertem Stageacting, das mich viel zu sehr an SLIPKNOT erinnerte als dass ich die Norweger unvoreingenommen betrachten konnte: Synchronisiertes Gehopse, rhythmische Rumpfbeugen (Headbangen ist eine lockere Bewegung aus dem Genick – nicht aus dem Hüftgelenk!) plus die freakigste Mimik, zu der die Gesichtsmuskeln fähig sind. Dazu ein Intro mit Störgeräuschen, eine Mischung aus stumpfen Drumbeats und abgestopptem Riffing.

 

Allerdings währte die Modern-Metal-Monotonie nicht lange, diverse Angeberinstrumente wie ein Fünfsaiter-Bass und eine Gitarre mit zwölf Saiten ließen schon erahnen, wohin die Reise gehen sollte: Es wurde progressiv. Und nach zwei, drei Songs und einem ordentlichen Industrialgewitter wurde deutlich, dass LEPROUS eine ziemlich außergewöhnliche Band sind. Die trauen sich was! Komplexe Songs, die aber genügend Wumms haben, um nicht in selbstverliebte Proggerei auszuufern, ein Sänger mit einer extrem kraftvollen Stimme und Songwriting mit ganz viel Liebe zum Detail. Die zeigte sich unter anderem aber auch in der Choreografie der Band – die ein oder andere Synchron-Bewegung war mit Sicherheit einstudiert. Im roten Hemden, Stoffhosen und wahlweise Krawatte oder Fliege brachen LEPROUS nicht nur optisch mit den  geliebten Klischees, auch musikalisch war das ungewohnte Kost – die Band beschreibt ihren Stil selbst als Avantgarde Progressive Rock & Metal. Klingt nach dem üblichen Anspruchs-Rock, überraschte live aber mit klinisch steriler Kälte – die Songs klingen live um einiges härter als von der CD.  Zusammen mit der wunderbar effektiven Lightshow mit viel kaltem, blauen Licht und Nebel wirkte das alles ziemlich beeindruckend, sofern man sich darauf einließ. Die Redaktionen im Publikum reichten von völligem Unverständnis bis zur Begeisterung, das Spektrum war also ähnlich breit wie das musikalische Spektrum der norwegischen Avantgarde-Metaller. Mir hat supergut gefallen, lediglich das Gekreische könnte Sänger Einar Solberg einfach sein lassen – er hat genug Power in der Stimme um auch gegen Riffdonner anzusingen – das zeigte dieser Abend auch.

 

amorphis

AMORPHIS

Voll war‘s inzwischen – in den ersten Reihen und auch sonst im Hirsch. Und AMORPHIS wurden quasi schon mit dem Intro beklatscht und bejubelt – es sei ihnen gegönnt, denn sie haben sich die Vorschusslorbeeren im Laufe des Abends dann auch verdient. Sänger Tommi Joutsen glänzte nicht nur mit seiner Nieten-Weste, sondern auch mit energischem Stageacting – mich erinnert er nicht zuletzt wegen seiner Dreadlocks und immer größer werdendem Mikro-Auf- und Anbauten etwas an Al Jourgensen vom MINISTRY ohne Drogenspuren. Los ging’s mit Song Of The Sage
und Mermaid, wobei mir letzeres live ohne Meerjungfrauen-Gesang deutlich besser gefällt. Gitarrist und Melodienkönig Esa Holopainen stand ruhig am rechten Bühnenrand und bewegte sich nicht groß – umso mehr konnte man sich darüber wundern, dass der Finne irgendwie seltsam alterslos wirkt. Der sah schon immer so aus und das scheint sich auch nicht zu ändern. Gegenspieler Tomi Koivusaari drückte sich am linken Rand rum, gewohnt unauffällig und fast schon schüchtern. Mehr Platz für den Frontmann, der die lauten wie die leisen Töne in fast schon unheimlicher Perfektion beherrscht und nebenbei sämtliche Standard-Posen einnimmt, ohne auch nur einmal albern dabei zu wirken. Schade nur, dass er sein Gesicht fast die ganze Zeit hinter seinem Custom-Made-Mikro mit insgesamt drei Haltgriffen versteckte. Nach Mermaid kam auch schon der erste Rückgriff auf die alten Alben – das Publikum stimmte für On Rich And Poor, die Alternative wäre Against Widows gewesen, das Voting via Lautstärke viel aber recht eindeutig aus.  Über You I Need freuten sich viele der jüngeren Fans, AMORPHIS legten mit Sky Is Mine noch einen melodischen Song drauf – und dann war Schluss mit Mädchenmusik. Vulgar Necrolatry von allerersten Album The Karelian Isthmus, erschienen vor 20 Jahren, im Original eigentlich von  ABHORRENCE, erschreckte den ungeübten AMORPHIS-Fan mit einer dreckigen Fuhre derbsten Death Metal. Und genau das macht AMORPHIS aus: Die können beides spielen – traumhaft schöne Melodien und fiesen, gemeinen, abgründigen Lärm – und zwar am selben Abend, direkt nacheinander.  Das funktioniert, weil sie glaubwürdig sind. Zwei-Meter-Basser Niclas Etelävuori und sein abgewanzter Bass geben jedem Song eine Schlagseite in Richtung Rock ´n’Roll, und die Gitarrenharmonien des Duos Holopainen/ Koivusaari waren schon Anfang der 90er Jahre außergewöhnlich – irgendwie haben AMORPHIS den Geheimcode geknackt, an dem viele Bands erfolglos knobeln: Weiterentwickeln und sich dabei treu bleiben. Mit Into Hiding  gab’s noch ein Geschenk an die Fans der ersten Stunde, und gerade bei diesem Song zeigte Tommi Joutsen, wie gut er den Wechsel zwischen Growls und klarem Gesang beherrscht. Nach Crack In A stone war erst mal Feierabend  – es folgte aber schnell der geforderte Zugabenblock. Silver Bride, das überragende Drowned Maid, My Kantele und eine Gänsehaut-Version von House Of Sleep, bei der das Publikum nur ganz wenig Unterstützung brauchte, um den Refrain mitzusingen, beschlossen einen sehr, sehr schönen Konzertabend.

Total
0
Shares
WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner