ENSLAVED: Vertebrae

Wie die raue See, nachdem sich der Sturm gelegt hat. Ein Meilenstein für offene, freie Geister.

Als wäre es nur ein Wirbel, nur ein Glied in einer Kette, so scheint Vertebrae angekündigt zu werden, als wäre es nichts Besonderes. Zwar stimmt es, Vertebrae ist weder das erste Album von ENSLAVED noch das Album, das die Veränderung brachte. Nein, dieses Album ist der logische Schritt nach den beiden wunderbaren Werken Ruun und Isa, auch wenn einige Fans genau dies sicherlich nicht wahrhaben wollen und doch ist es ein großes, tiefes, wunderbares Werk. Vertebrae zeigt eine Band, die nun genau das tut, was ihre musikalischen Väter getan haben, eine Band, die sich wie die raue See beruhigt hat, nachdem der Sturm vorbei ist und der Wellengang sich normalisiert.

ENSLAVED und ihr zehntes Album. Eine mutige Angelegenheit, die einzige wirklich Ehrliche. Vertebrae ist ein warmes Album geworden, ein atmosphärisches, ein beruhigendes, wie aufwühlendes, ein grimmiges wie strahlendes Werk. Nicht kompliziert, dennoch gewöhnungsbedürftig. Viele Gegensätze werden vereint und nicht selten fühlt man sich eher an KING CRIMSON oder sogar ISIS erinnert, als an die frühen Tage von ENSLAVED. In den vergangenen zweieinhalb Jahren sind die Norweger deutlich gewachsen und doch ist ihre Ausrichtung ähnlich geblieben. Nur sind sie nun erwachsener, schreiben Songs, die unter die Haut gehen, die nur wenige verschiedene Teile haben, dafür aber alle zünden und sich hervorragend ergänzen.

Gerade die harmonischen, progressiven Stellen gehen tief unter die Haut, siehe den Opener Clouds und wie sich seine epische Komponente langsam aufbaut und Gänsehaut verschafft, ohne die Härte missen zu lassen. Dies sind jedoch nicht die einzigen großen Momente auf Vertebrae, jeder Song, jedes Glied, jeder Wirbel baut eine Verbindung zum nächsten auf, daher gibt es einen großen, herrlichen Gesamteindruck. Visionäres Songwriting, das sich nicht an Trends und modernen Strömungen orientiert, sondern tief im Progressive Rock der 70er verwurzelt ist und außerdem noch einige wenige Black Metal-Versatzstücke mitbringt. Die Gewichtung ist klar, es gibt auf Vertebrae fast keine rasanten Stellen, keine Blast Beats, kein wildes Gesäge.

Dafür gibt es erdige Riffs, große Riffs, Riffs, die im Gehör bleiben und nicht heraus wollen. Ivar Björnson hat es im Griff, seine Kreativität perfekt zu kanalisieren, was Ground und Reflection mit ihrer Gitarrenarbeit zu Nummern für die Ewigkeit macht. Fantastisches Riffing, erdig und ehrlich, leiten durch diese Stücke und zaubern ein Lächeln auf die Lippen, da kann Grutle Kjelsson noch soviel kreischen. Wobei der diesbezüglich auch etwas zurücksteckt und sich den Gesang mittlerweile gleichberechtigt mit Keyboarder Herbrand Larsen teilt, was auch eine gute Idee war. Denn dieser hat seine Stimme superb unter Kontrolle und gibt der Musik das, was sie braucht – eine unaufdringliche Hymnenhaftigkeit, so dass einem ein Schauer über den Rücken läuft.

Doch das passiert alles eher im Hintergrund. Generell, auf Vertebrae passiert das Meiste im Hintergrund, weder die Gitarren, noch das Drumming, nicht die Keyboards und auch nicht der Gesang, einfach nichts steht übermäßig im Vordergrund, genau deshalb sind die Songs das Zentrum dieses Albums. ENSLAVED setzen mehr auf Atmosphäre, auf Wärme, auf den Gesamteindruck und damit gewinnen sie klar. Großartige musikalische Leistungen gibt es dennoch zu hören, sei es in vertrackten Stellen, bei der sich die Instrumentalisten austoben dürfen, oder einfach beim hemmungslosen Sich-Gehen-Lassen.

Ganz ehrlich, ohne das unglaubliche Soundgewand wäre dieses Album vielleicht nicht so intensiv geworden. Vertebrae hat unglaublich erdige, natürliche Gitarren, altmodisches Drumming und Gesang mit viel Hall. Der Mix von Ikone Joe Baresi und das Mastering von der Legende George Marino hat sich enorm ausgezahlt. Gerade die Gitarren sind sensationell und so natürlich, es begeistert mich jedes Mal aufs Neue. Neben den bereits erwähnten Stücken brillieren ENSLAVED auch mit dem Titeltrack, dem etwas rasanteren New Dawn, dem schleppenden Center und der abschließenden Hymne The Watcher.

Vertebrae ist für die Fans der ersten Stunde wohl eine schwierige Angelegenheit, bisweilen sicherlich ungenießbar. Wer die Entwicklung von ENSLAVED jedoch verfolgt und für gut heißt, der wird von diesem Album begeistert sein. Denn das norwegische Quintett war nie eigenständiger, nie kreativer, nie fokussierter, nie reifer und nie leidenschaftlicher. Wer das nicht so sehen will, hat einfach nicht richtig hingehört. Ein Meilenstein und eines der Highlights dieses Jahres.

Veröffentlichungstermin: 26. September 2008

Spielzeit: 49:07 Min.

Line-Up:
Grutle Kjellson – Vocals, Bass
Herbrand Larsen – Vocals, Keyboards
Ivar Björnson – Guitar
Arve Isdal – Guitar
Cato Bekkevold – Drums

Produziert von Ivar Björnson, Herbrand Larsen und Grutle Kjellson
Label: Indie Recordings

Homepage: http://www.enslaved.no

MySpace: http://www.myspace.com/enslaved

Tracklist:
1. Clouds
2. To the Coast
3. Ground
4. Vertebrae
5. New Dawn
6. Reflection
7. Center
8. The Watcher

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