NEUROSIS und FINGERSPITZENGEFÜHL in Stockholm, Debaser Medis, 26. Juni 2007

Mal wieder Zeit für den puren Wahnsinn.

Es war mal wieder Zeit für den puren Wahnsinn. Dass NEUROSIS meine Lieblingsband ist, dürfte dem Einen oder Anderen vielleicht aufgefallen sein, ebenso dass die sechs Ausnahmemusiker für eine Woche Europa unsicher machten. Und da ich noch nie in Stockholm und das Konzert im Debaser Medis nicht im Rahmen eines Festivals war, sondern eine Clubshow darstellte, fiel das Los schnell auf die schwedische Hauptstadt. Das Captain Chaos´sche Chaos blieb nicht aus, also gerade noch das Flugzeug erwischt und kurze Zeit später schon vor dem Club gestanden und gewartet.

Vor Ort kristallisierte sich heraus, dass als Supportband die Stockholmer FINGERSPITZENGEFÜHL noch kräftig rocken durften. Diese passten stilistisch gesehen zwar nicht so ganz zu NEUROSIS, der mit Sludge versetzte Stoner Rock haute in der halben Stunde dennoch kräftig rein. Kurzweilig, mit großer Spielfreude und knackigen Riffs, sowie einer guten, Energie geladenen Performance konnten sie das Publikum für sich gewinnen. Vor allem der Sound war absolut gelungen, fett drückend und differenziert – ein Fest für die Ohren. Zwar gab es von FINGERSPITZENGEFÜHL wenig Neues und Innovatives zu hören, ihr Auftritt war dennoch mitreißend und wirklich gut, so dass nicht nur die Fans aus Stockholm und Umgebung großen Gefallen an der Musik fanden.

Angereist waren die Fans von weit her, Deutsche, Finnen, Norweger, Nordschweden, insgesamt ca. 400 an der Zahl, sie alle warteten auf den Moment, in dem sich der Vorhang wieder lüftete und dass NEUROSIS mit ihrem Set begannen. Um 21:15 Uhr markierte nach einem langen ambientlastigen Intro Given to the Rising den Beginn des Konzertes. Mit unfassbarer Intensität und dem perfekten Live-Sound spielte die Band aus San Francisco diese Show, Scott Kelly bewegte sich zur Musik wie ein Berserker und ließ die Leute wissen, dass er trotz seiner gut 40 Jahre und 22 Jahre im Bandgefüge noch immer die Musik spürt. Optisch untermalt von den Visuals von Josh Graham wurden die Songs in ein ganz anderes Licht getaucht. Viele Facetten wurden dazu addiert, die Bilder, fast schon poetisch schön, grenzten sich von den frühen, gewalttätigen NEUROSIS-Konzerten ab und zeigten sich philosophisch und intelligent. Fast nur schwarz-weiß und so dezent und unaufdringlich, ließen die Bilder auch die Musiker von NEUROSIS hier und da in den Mittelpunkt rücken, und zwar dann wenn sie wieder eine Leidenstour par excellence hervorriefen.

Das Set bestand im Wesentlichen aus Songs der beiden aktuellsten Alben The Eye of Every Storm und Given to the Rising, was durchaus Kontroverse hervorrief. Einerseits hätten sich viele Fans ältere Songs gewünscht, andererseits erlebten sie das live dargebotene Material in ungeahnter Wucht und Perfektion. Ruhige Songs wie Burn und A Season in the Sky wirkten live um einiges besser als auf CD, die wütenden Stücke von Given to the Rising zermalmten den Hörer dann endgültig. Bestes Beispiel: At the End of the Road und das wundervolle To the Wind. Die aufgebaute Spannung wurde schier unerträglich, die lauten Passagen waren dermaßen brutal und die Bilder derart beeindruckend, dass wenn die Show danach bereits geendet hätte alle trotzdem zufrieden gewesen wären. An Distill (Watching the Swarm) und Left to Wander wurde noch mal deutlich, welche Kraft das neuere NEUROSIS-Material eigentlich besitzt.

Steve von Tills Stimme klang vielleicht etwas angegriffen, aber dennoch war sein Gesang zusammen mit dem eindringlichen Gesang von Scott Kelly absolut erhaben. Noah Landis Keyboards brachte die psychedelische Atmosphäre im Wohnzimmer auch in der Halle bestens rüber und dank dem Rhythmusgerüst Dave Edwardson und Jason Roeder passte auch hier alles wunderbar. Das machte sich vor allem am Ende bemerkbar: Das einzige ältere Stück, The Doorway vom Überalbum Times of Grace, schloss das Set in einer mindestens zehnminütigen Version, mit extremen Lärmausbrüchen, ab. Das zwang auch den letzten Konzertbesucher in die Knie.

Nach 90 Minuten Reinigung und Läuterung wurde die Anhängerschaft in die Freiheit entlassen und befanden sich auf dem Weg nach draußen noch immer in einem Trancezustand, dank dem kürzlichen Midsommar sogar noch im Zwielicht der Abenddämmerung. Selten habe ich so wenige Zwischenrufe bei einem Konzert erlebt, selten habe ich so eine ehrfürchtige Stille nach einem Konzert erlebt und noch nie habe ich es erlebt, dass sich die Besucher nach dem Konzert anders verhielten als davor. Was am 26. Juni 2007 in Stockholm passierte war eine Zeremonie, kein normales Konzert.

Der Heimweg war steinig und lang, inklusive Übernachten in einem Park, Spaziergänge durch die schöne Stadt, anstrengendem Heimflug und anschließendem Jobwechsel. Manchmal überschlagen sich die Ereignisse im Leben eines Menschen einfach. Mein neues Leben begann am 26. Juni.

Setlist NEUROSIS:
Given to the Rising
Burn
A Season in the Sky
At the End of the Road
To the Wind
Distill (Watching the Swarm)
Water is not Enough
Left to Wander
The Doorway

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