LOCRIAN: Infinite Dissolution

Wie eine drohende Umweltkatastrophe völlig neuen Ausmaßes zu neuer schöpferischer Kraft führt: Zumindest LOCRIAN laufen dank Elizabeth Kolbert zu Höchstleistungen auf.

Elizabeth Kolbert weiß, dass sich die Erde auf ein neues Zeitalter zubewegt. Bisher gab es fünf Massensterben in der Geschichte unseres Planeten, das letzte fand vor gut 65 Millionen Jahren statt, als die Dinosaurier vom Antlitz der Erde wichen. Das sogenannte Sechste Sterben, so der Titel des 2014 erschienen Buches von Elizabeth Kolbert, das nebenbei bemerkt den Pulitzer-Preis gewann, behandelt die gegenwärtige und kommende Auslöschung vieler Spezies. In unserem Zeitalter, dem Holozän hat dieses Massenaussterben aber keine natürliche Ursache wie bei den fünf Ereignissen zuvor, sondern uns. Den Menschen. So ein biologischer Thriller ruft natürlich viele Menschen auf den Plan. Diejenigen, die all das bestreiten, diejenigen, die behaupten, dass all das nicht sein kann, weil die es die Erde ja erst sein ein paar tausend Jahren gibt. Es gibt diejenigen, die resignieren, und diejenigen, die sich all dem stellen und daraus zu schöpferischer Kraft finden.

LOCRIAN haben in den vergangenen zehn Jahren eine Menge Musik geschaffen, und vieles davon war gezeichnet von Visionen der Apokalypse, man denke an das brillante Vorgängeralbum Return To Annihilation ebenso wie das unglaubliche Werk The Crystal World. Dass LOCRIAN nun auf Infinite Dissolution Elizabeth Kolberts Werk behandeln, ist entsprechend konsequent, und ebenso wie das Buch ist die Musik erbarmungslos. Ein Tadel für unsere gesamte Spezies. Die Intensität des Themas scheint das Trio aus Chicago anzustecken: Infinite Dissolution ist so zugänglich wie kein Album von LOCRIAN zuvor, zeigt die verschiedenen stilistischen Pfeiler exzellent verwoben. Das Gemisch aus Noise, Black Metal und Drone ist voller magischer Momente – und klingt weit weniger nihilistisch und finster, wie man meinen möchte. LOCRIAN erschaffen Klangkaskaden mit einem irrsinnigen Reichtum an Details, erschaffen mit unkonventionellen Wegen ihr Konzeptalbum, sind aber geerdeter als in der Vergangenheit.

Mit einem enormen Reichtum an Synthesizern – allen voran wunderbaren Moogs – und weiteren elektronischen Instrumenten bauen LOCRIAN eine atmosphärische Schicht auf die nächste und erreichen somit ein beängstigend dichtes Klanguniversum. Die Stücke sind vergleichsweise kurz, keiner der neun Tracks sprengt die Zehn-Minuten-Grenze, dennoch wirkt keiner der Aufbauten zu gehetzt. Im Gegenteil: LOCRIAN haben ihre Songs perfekt unter Kontrolle, es gibt eine Menge dynamischer Aufbauten, vor allem dank des wuchtigen Drummings, der massiven Gitarrenriffs und dem markerschütternden Geschrei. Darüber hinaus schaffen es LOCRIAN gerade mittels der Leadgitarren für Wiedererkennungswert zu sorgen. Das ist nicht wirklich eingängig, aber Dark Shales beispielsweise beweist, wie wunderbar harmonisch und bildschön das werden kann. LOCRIAN vermengen die Grenzen von elektronischer Musik und Metal auf ihre ureigene Art und Weise, nur die ganz krassen Anflüge von Noise sind auf Infinite Dissolution weniger geworden, auch wenn es noch immer nervenzerfetzende Sounds zu hören gibt.

Nehmen wir LOCRIANs neuntes Album auseinander, so finden völlig unterschiedliche Stücke, die aber zusammen einen absolut stimmigen Gesamteindruck ergeben. Arc Of Extinction ist als Einstand gleichermaßen futuristisch wie furios und nebenbei mit herrlichen Soli versehen, die eine Verneigung vor RANDY RHODES darstellen. Das kompakte The Future Of Death klingt, als würden LOCRIAN mit JOHN CARPENTER ein Projekt aufziehen. Mit den drei KXL-Stücken nähern sich LOCRIAN von der Harmonie immer näher an die Kakophonie, The Great Dying ist geheimnisvoll und geradezu sinnlich schön. Und in der Mitte thront mit An Index Of Air das beste Stück des Albums, das nach einem repetitiven dreiminütigen Intro in Blast Beats mündet und dank dem sphärischen Gesang von Erica Burgner-Hannum eine hochemotionale Ebene erschafft, bevor das epische Finale geradezu für Glücksgefühle sorgt. Hier zeigt sich einmal mehr LOCRIANs kompositorische Liebe zum klassischen Progressive Rock.

Infinite Dissolution ist ein nahezu perfektes Album. Eines intellektuell und emotional berührendes Werk, das einer klaren Linie folgt: Die Songs werden immer abstrakter, schwerer greifbar, aber auch atmosphärischer, ganz im Sinne des Konzeptes. Die auf dem Cover abgebildeten Skulpturen The Eye und The University von David Altmejd sind ebenso komplex und faszinierend wie die Musik, die von Greg Norman ganz organisch aufgenommen und gemischt wurde – trotz der vielen elektronischen Elemente klingen LOCRIAN niemals steril und kalt. Infinite Dissolution ist, so seltsam es klingen mag, ein trotz aller Dissonanzen unglaublich schönes Album geworden, das weniger negativ klingt, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn Elizabeth Kolbert fasst es schon am Ende ihres Buches zusammen: Es gibt zwei Szenarien, wie Das sechste Sterben enden wird. Entweder die Menschen löschen sich selbst aus, oder sie finden einen Weg aus dieser Mutter aller Krisen und retten sich durch ihre Intelligenz und ihren Erfindungsgeist. LOCRIAN haben ihren Weg gewählt und geben sich nicht geschlagen.

Veröffentlichungstermin: 24. Juli 2015

Spielzeit: 47:26 Min.

Line-Up:
André Foisy – Guitars, Electronics, Piano
Terence Hannum – Vocals, Moog Little Phatty, Moog Minitaur, Moog Source, MicroKorg, Arp Avatar, EDP Wasp, Mellotron M400, Samples
Steven Hess – Drums, Percussion, Electronics

Gastmusiker:
Dana Schecter – Lap Steel
Erica Burgner-Hannum – Vocals

Label: Relapse Records

Homepage: http://www.locrianband.com/

Mehr im Netz: http://www.facebook.com/LocrianOfficial

Tracklist:
1. Arc Of Extinction
2. Dark Shales
3. KXL I
4. The Future Of Death
5. An Index Of Air
6. KXL II
7. The Great Dying
8. Heavy Water
9. KXL III

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