DIRGE: Akustische Naturereignisse

Waren mir die Franzosen DIRGE vor einem halben Jahr noch völlig unbekannt, so ist ihr, im September erschienenes, viertes Album „Wings of Lead Over Dormant Seas“ ein unverzichtbares Werk für Post-Hardcore-Anhänger und Hörern von epischen Doom geworden. Dass es bei dem Quintett aus Paris um mehr geht, als um coole Riffs, Drogen und Anerkennung in der Szene, macht die ungewöhnliche Arbeitsweise der Band deutlich, die Gitarrist Stephane in aller Ausführlichkeit erläutert.

Waren mir die Franzosen DIRGE vor einem halben Jahr noch völlig unbekannt, so ist ihr im September erschienenes viertes Album Wings of Lead Over Dormant Seas ein unverzichtbares Werk für Post-Hardcore-Anhänger und Hörern von epischen Doom geworden. Dass es bei dem Quintett aus Paris um mehr geht, als um coole Riffs, Drogen und Anerkennung in der Szene, macht die ungewöhnliche Arbeitsweise der Band deutlich, die Gitarrist Stephane in aller Ausführlichkeit erläutert.

 

 

War es eine taktische Entscheidung And Shall the Sky Descend drei Monate neu aufzulegen, bevor das neue Album herauskam?

 

Es gab keine große Strategie hinter diesem Vorgehen. Es war viel mehr so, dass wir bei Equilibre Music unterzeichneten und sie schlugen vor And Shall the Sky Descend“ neu zu veröffentlichen. Die vorherige Version ist über unser eigenes Label Blight Records erschienen, und somit hatte es keine wirkliche Distribution. Der Deal mit Equilibre war eine sehr gute Gelegenheit für uns, das Album einer breiteren Käuferschicht anzubieten, vor allem außerhalb Frankreichs. Wings of Lead Over Dormant Seas“ war schon einige Zeit für September angekündigt, also gab es keinen Grund den Termin zu verschieben.

 

Euer neues Label Equilibre Music ist meiner Meinung nach ein kleines Label mit hohem Potenzial. Seid ihr zufrieden mit eurer Entscheidung, viel Verantwortung an fremde Personen abzugeben?

 

Du musst wissen, Blight Records war und ist immer noch unser eigenes Label. Das bedeutet viel Arbeit für uns, speziell für Alain (Schlagzeuger, Anm. d. Verf.), der das Label führt. Wir haben viel Geld in die Produktionen gesteckt, es ging viel Zeit drauf, Kontakte zu knüpfen, Konzerte zu organisieren und so weiter. Der Vertrag mit Equilibre ist sozusagen ein Segen, da wir uns nun völlig auf die künstlerische Seite der Band konzentrieren können. Wir sind zufrieden mir unserem neuen Label, das ist die Wahrheit. Die beiden neuesten Alben haben eine weit bessere Distribution und entsprechend einen breiteren Wirkungsgrad. Außerdem hat unser neues Heim ein sehr ausgeprägtes Netzwerk in den Medien, was sehr neu für uns ist. Das Wichtigste ist aber, dass wir die komplette Kontrolle über alles, was mit der Band zusammenhängt behalten, speziell im Bereich des Songwritings. Das war der ursprüngliche Grund, warum wir uns entschieden haben, bei Equilibre zu unterschreiben. Selbst wenn es ein wenig komisch ist, dass zumindest ein kleiner Teil in fremden Händen liegt – wir bedauern unsere Entscheidung nicht. Wir bleiben vollkommen unabhängig.

 

Für mich war euer Wechsel auch eine positive Sache, denn ansonsten hätte ich DIRGE vielleicht nicht kennen gelernt. Und so konnte ich auch das Wachstum zwischen And Shall the Sky Descend und Wings of Lead Over Dormant Seas beobachten. Wie lange habt ihr an dem neuen Werk geschrieben?

 

Es ist nicht einfach, den Zeitraum des Erschaffens und der Komposition zu bemessen. Wir sind sicherlich keine der Bands, die ein Album pro Jahr veröffentlichen. Aber wie du dir sicherlich vorstellen kannst: Es dauert lange von den ersten Schritten bis hin zum Endergebnis, wir müssen uns vollkommen darauf fokussieren. Deshalb haben wir im Frühjahr 2006 auch temporär aufgehört live zu spielen.

 

Wie sieht Songwriting generell bei euch aus? Seid ihr im Proberaum, raucht Dope und lasst die Dinge dann einfach fließen? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass einer diese Musik alleine schreibt, das muss doch im Kollektiv geschehen.

 

Wir haben eine sehr präzise Arbeitsweise. Wir beginnen generell einige Monate lang die Gitarren und Drums in Marcs (Gitarre, Gesang, Anm. d. Verf.) Heimstudio einzuspielen. Dort formen wir den Aufbau des Songs. Danach spielen wir die Songs in unserem Proberaum mit dem Rest der Band. Dort erst wird die Lautstärke offen gelegt, einiges wird erkannt und bestätigt, die musikalische Rohfassung ist dann manchmal recht weit weg von den ursprünglichen Ideen. In dieser Liveatmosphäre beginnen wir die Songs auszudehnen, zu experimentieren und die Inspiration und Gefühle fließen zulassen. Aber Gras im Proberaum zu rauchen würde nicht wirklich gute Resultate hervorbringen, das kannst du mir glauben.

 

Viel wichtiger sind ja auch die Einflüsse. Meiner Meinung nach kommen die natürlich von NEUROSIS, aber auch von dunklen Bands aus den 80ern, wie FIELDS OF THE NEPHILIM, stimmts?

 

Verrückt, dass du das sagst – du bist der Erste, der FIELDS OF THE NEPHILIM erwähnt. Die sind seit Ewigkeiten eine meiner Lieblingsbands, mich freut dieser Vergleich wirklich sehr. Aber stimmt das auch? Ich weiß es nicht, vielleicht hat die Band einen unbewussten Einfluss auf mich, wer weiß? Vielleicht haben FIELDS OF THE NEPHILIM und DIRGE auch nur denselben Geschmack, wenn es um progressive Struktren, hypnotische Atmosphäre und weite Klanglandschaften geht, ich weiß es wirklich nicht. Ich mag Gothic-Bands aus den 80ern sehr gerne, THE CURE, JOY DIVISION, SIOUXIE AND THE BANSHEES, SISTERS OF MERCY, DEAD CAN DANCE und so weiter. Aber ich glaube nicht, dass deren Einfluss so stark in unserer Musik vorkommt, da ich auch der einzige in der Band bin, der solche Bands mag. Außer im Falle von JOY DIVISION vielleicht…

 

Dirge

WIR spielen die Musik in erster Linie
für UNS SELBST. – DIRGE sind
kompromisslose Idealisten.

 

Viele Leute machen Musik, weil sie einen bestimmten persönlichen Status erlangen wollen, selbst wenn es nur Mädchen und Drogen sind. Aber ihr spielt diese Musik, ebenso wie NEUROSIS, um der persönlichen, spirituellen Evolution wegen.

 

Ja, WIR spielen die Musik in erster Linie für UNS SELBST. Wenn die Leute es mögen, perfekt. Aber das ist nicht unser Ziel. Wir wollen, dass die Leute zu uns kommen, nicht umgekehrt. Das ist pure Katharsis. Das was uns antreibt, ist der Glaube an das, was wir tun. Egal ob berühmt oder isoliert, das wird nicht unsere Musik verändern.

 

Die mächtigen Riffs, Schwere, die Langsamkeit, all das erschafft eine mächtige „Wall of Sound“. Seid ihr manchmal von euch selbst überrascht, wie intensiv eure Musik wird?

 

Ja, manchmal. Besonders bei einem Song wie Glaring Lights“, der einer meiner Favoriten ist.

 

Die Songs auf eurem neuen Album sind jedenfalls kürzer als auf dem Vorgänger – wolltet ihr zugänglicher werden, oder war das Zufall?

 

(lacht) Ich denke nicht, dass sie kurz sind.

 

Hast ja recht. Epicentre ist meiner Meinung nach der beste Song von Wings of Lead Over Dormant Seas, es klingt nach einer spacigen Version von neueren CULT OF LUNA, mehr ein Tribut als eine Kopie, denn die Identität ist immer noch DIRGE.

 

Wir alle mögen CULT OF LUNA, aber sie waren nie ein Einfluss für uns. Epicentre“ ist für mich einfach DIRGE pur“ und außerdem einer meiner Favoriten.

 

Die Gesangsarrangements dieses Stücks sind großartig – rau, ziemlich sanft und sehr ausdrucksstark. Es klingt nach einer unbequemen Version von Carl McCoy.

 

Nun, ich weiß nicht ob Nicolas (Sänger von KILL THE THRILL, hat den Gesang zu diesem Stück beigesteuert – Anm. d. Verf.) FIELDS OF THE NEPHILIM kennt oder mag, aber das ist deine Meinung. Meiner Meinung nach singt er sehr persönlich und erinnert mich an… KILL THE THRILL (lacht)

 

“Nulle Part“ ist ein wirklich besonderes Lied, recht kurz und erinnert mich leicht an JESU. Hier hat Hichem Allaouchiche Hand angelegt, wie kam eine derart intensive Kollaboration mit einer fremden Person zustande?

 

Hichem ist kein Unbekannter, sondern unser ehemaliger Bassist aus den Jahren 2004 und 2005 und ein sehr enger Freund von uns. Er ist eine sehr begabte Person und hat den selben Geisteszustand wie wir, diese Zusammenarbeit war also recht logisch. Wie ließen ihm bei diesem Song völlig freie Hand. Er weiß perfekt, wie ein DIRGE-Song, auch ein hellerer und kälterer, klingen muss. Wir hatten also totales Vertrauen und wir hatten Recht damit.

 

Der einstündige Titeltrack hat eine wirklich gut harmonisierende Instrumentierung, die Violine und speziell die Trompete passen sehr gut zur Musik und verliehen eine Prise Extravaganz. Waren das Ideen, die ihr im Studio hattet, oder war das schon geplant?

 

Unsere Tracks sind akkurat strukturiert, wenn wir das Studio betreten um aufzunehmen, bei diesem Song war es nicht anders. Natürlich, unsere Musik ist sehr organisch und bewegend“, durch eine weite Spanne an überirdischen Stellen, weil sie hauptsächlich komponiert wurde, um live gespielt zu werden. Aber wir brauchen ein solides Grundwerk für die besten Aufnahmeresultate, also auch besseren Fluss zwischen den Instrumenten. Als wir das Studio betraten um die Hauptteile des Titeltracks einzuspielen, wussten wir bereits, dass Violinen und Trompeten früher oder später an einigen Stellen auftauchen würden. Wir wussten nicht genau wie, aber wir wussten, es würde wie geplant passieren.

 

Dirge
Wir hatten totales Vertrauen – und damit hatten wir Recht. Gitarrist Stephane über Ex-Bassist Hichem, der für einen Großteil von Nulle Part verantwortlich ist.

Wenn ich die Texte betrachte, denke ich an eine Abrechnung mit der Welt. Als würde die Natur alles Leben von der Erde wischen, mit ihrem Zorn und ihrer und ihrer grenzenlosen Kraft. Dennoch sehe ich viele Bilder in den Worten, weshalb ich dahinter eine zusätzliche, komplett andere Bedeutung vermute.

 

Ich ziehe es vor, dass die Hörer ihre eigene Interpretation aus den Texten ziehen, als dass ich über die Texte plaudere. Aber ich kann sagen, dass die Lyrics oft von Themen wie Leere, das Nichts, Verdammnis und dem weiten Raum inspiriert wurden. Außerdem versuchen Worte so präzise wie möglich die unmenschliche Dimension der Natur wiederzugeben, ihre Gewalt, ihr Potenzial zu erschaffen und zu zerstören. Einfach diese immense Kraft, vor der die Menschheit so schwach zu sein scheint. Einerseits geht es bei DIRGE um diese gigantischen Wellen, Vulkane, Erdbeben, Lawinen und Fluten, aber andererseits ist diese Band eine Wüste, eine polare Ausdehnung, eine Aurora Borealis, ein schlafender Ozean. Beide Aspekte – Bewegung und Trägheit, Kraft und Beschaulichkeit, Schrei und Stille, sind unteilbare Dualitäten innerhalb der Texte von DIRGE. Aber diese Worte können jeweils auf anderen Ebenen empfunden werden, es ist viel Symbolismus darin enthalten.

 

Ich sehe eine gewisse textliche Verwandtschaft zu Baudelaire…

 

Ich würde eher Lautréamonts Die Gesänge des Maldodor“ sagen. Aber selbst wenn es so wäre, es ist vollkommen unbewusst.

 

Ihr habt das Album wieder in der Schweiz aufgenommen – ist euch das Studio sympathisch?

 

Ich persönlich mag es, weil es eine Art Verkörperung von Monaten der Arbeit darstellt. Dennoch finde ich es gleichermaßen stressig. Wie ich bereits erwähnte ist unsere Musik darauf ausgelegt, live gespielt zu werde, somit sind Konzerte das, was wir als Band bevorzugen. Wenn du im Studio arbeitest, weißt du immer, dass du ein Stück Musik für immer festhältst, das in seiner Essenz aber immer noch lebt und wächst. Unsere Songs wachsen immer weiter, ähnlich einem lebenden Wesen. Das ist eine Sinnesempfindung, die mir nicht sehr behagt.

 

Wings of Lead Over Dormant Seas wurde von euch selbst gemischt. Kann jemand, der so tief in der Musik involviert ist ebenso mischen, wie jemand außerhalb der Band? Ist das nicht gefährlich?

 

Nein, weil wir genau wissen, was wir wollen und wie unsere Musik klingen muss. Weißt du, wie machten einen ersten Mix von Wings of Lead Over Dormant Seas“ in der Schweiz, in dem Studio, in dem wir augenommen haben und das Resultat war nicht zufrieden stellend. Der Tontechniker ist zwar eine äußerst begabte Person, aber ich glaube nicht, dass er unsere Musik vollkommen verstanden hat. Das Endergebnis war zu klar, zu sauber, zu klinisch. Zurück in Paris entschieden wir uns dafür den Mix von Grund auf neu zu machen und Marc machte diese Arbeit und das Mastering perfekt.

 

Das Artwork ist sehr minimalistisch und könnte nahezu alles bedeuten. Soll sich auch hier jeder seine eigene Interpretation herausziehen oder ist es eine expressionistische Nova, wie es der Titel andeutet? Das Artwork passt aber sehr gut zur Musik – arbeitet ihr mit Axël Kriloff zusammen, weil er auf andere Weise dasselbe wie ihr ausdrückt?

 

 

Wie die Texte oder die Visuals, auch die Artworks reflektieren exakt die selben Ideen und Atmosphären wie die Musik. Seit unserem zweiten Album Blight and Vision Below a Faded Sun“ werden unsere Artworks bei unserem guten Freund Axël gemacht – er ist übrigens Gitarrist bei PROTON BURST. Wir lieben seine Arbeit, die auf Rost und Verätzung basiert. Seine Art mit Dunkelheit und Licht zu spielen, das ist eine Art apokalytisches Clair-obscur und das passt einfach perfekt zu unserer Musik. Und da Axël unsere künstlerische Vorgehensweise vollkommen versteht, lassen wir ihm freie Hand, wenn er zu unserer Musik die Covers gestaltet. Wie bei den Texten sollte jeder seine eigene Interpretation zu den Artworks haben, Nova“ ist einfach nur der Titel des Werks an sich. Der Rost ist seine eigene Vision des Albums, wie ein Spiegel von dem, was er fühlte, während des Entstehungsprozesses.

Dirge
Wie eine Abfolge von vulkanischen Detonationen unter einem schlafenden Ozean. – Stephane die Macht von DIRGE auf der Bühne.

Wie sind DIRGE eigentlich auf der Bühne?

 

Ich empfinde unsere Konzerte, wenn sie erfolgreich sind, wie eine Abfolge von vulkanischen Detonationen unter einem schlafenden Ozean. Es ist weder eine Kommunion oder eine Abhaltung, nichts dergleichen. Es sind nur Klänge und Bilder, die gewalttätig und schmerzerfüllt auf der Bühne kollidieren. Seit 1998 begleiten Videos unsere Konzerte. Heutzutage können wir uns nicht mehr vorstellen, wie es ist live zu spielen, ohne die Leinwand hinter uns. Es ist ein sehr wichtiger Aspekt unserer Konzerte, Bilder und Klänge sind die Hauptprotagonisten auf unseren Konzerten. Als Musiker sind wir nur da um zu spielen und stehen wie bewegte Schatten auf der Bühne. Wir wollen uns nicht zwischen die Videos oder die Musik stellen, da der Film, den wir spielen die exakte Materialisation unseres Universums darstellt.

 

Das muss ich auch erleben! Wann kommt ihr auf Europatour?

 

Wir versuchen gerade einige Daten für das Frühjahr 2008 zusammen zu bekommen, denn wir möchten sehr gerne durch Frankreich und Europa touren. Es wäre schön, Länder und Regionen zu besuchen, in denen wir noch nie gespielt haben, wie Deutschland, England und Osteuropa…

 

Welche Bands aus Frankreich kannst du unseren Lesern und mir noch empfehlen? Ich kenne aus dieser Richtung COMITY, OVERMARS und YEAR OF NO LIGHT, aber da gibt es doch bestimmt noch mehr, oder?

 

KILL THE THRILL natürlich! Ansonsten sind noch erwähnenswert TIME TO BURN, DANISHMENDT, MEMBRANT, PROTON BURST, TREPONEM PAL, SUP, SLEEPERS und HINT. Und wenn es um andere Genres geht, dann auf jeden Fall ROSA CRUX, MORTHEM VLADE ART, VON MAGNET, NORSCQ, LAND, FIN DE SIÉCLE und die frühen DIE FORM.

 

Gibt es abschließend noch, das du loswerden willst?

 

Danke für die Unterstützung, wir sehen uns in Deutschland.

 

Bilder: DIRGE

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