NEUROSIS: Strength and Vision

Ein Gespräch mit Scott Kelly, auch als Person so visionär und ehrlich wie als Musiker.

MASTODON-Sänger Troy Sanders sagte, dass es diese Band war, die sein Leben veränderte. So ist es auch bei mir, ich werde den Tag niemals vergessen, an dem ich zum ersten Mal den Song “Locust Star” von ihrem Meilenstein “Through Silver in Blood” hörte. Seither sind die Alben der Band aus meiner Sammlung nicht mehr weg zu denken und mit der Vision der Band kann ich mich jeden Tag ein Stückchen mehr identifizieren. Ihr könnt euch vorstellen, wie aufgeregt ich war, als ein sehr ruhiger und nachdenklicher Scott Kelly, seines Zeichens Sänger und Gitarrist, bei mir anrief. Das faszinierende Gespräch konnte leider nicht fortgesetzt werden, doch auch in dieser halben Stunde gab es viel interessantes zu hören.



The Eye Of Every Storm” ist euer bislang reifstes und ernstgemeintestes Album. Man kann in den Songs hören, dass ihr als Menschen gewachsen seid und einen großen Schritt in eurer Persönlichkeit getan habt.

Ja, das stimmt. Wir sind nun endlich an einem Punkt angelangt, an dem alles so viel klarer ist. Zumindest hoffen wir, dass wir dies erreicht haben.

Ihr habt als vor mehr als 18 Jahren als Hardcore und Punk-Band angefangen. Die wütenden Zeiten sind vorbei, besonders seit in eurem Album “Times Of Grace“, was auch das erste schöne Album war, in dessen Booklet die Namen eurer Kinder auftauchten. Stehen eure Kinder im Zusammenhang mit eurer musikalischen Entwicklung?

Dieser Zusammenhang ist ein wirklich großer. Dennoch erwähnte ich meinen Sohn bereits im Booklet zu “Pain of Mind” (unbedingt überprüfen – Anm. d. Verf.). Kinder sind wirklich die einzig guten Menschen auf Erden. Sie besitzen so viel Liebe, es ist echt schwer in Worte zu fassen. Ich kann für mich selbst sagen, dass meine Kinder das Beste sind, was mir in meinem ganzen Leben passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich noch mit dir sprechen könnte, hätte ich sie nicht.

Jedenfalls hört man, dass ihr keine wütenden Jugendlichen mehr seid. Das Album ist nicht nur ruhig, es ist auch sehr minimalistisch, in der Beziehung, dass in den Songs nicht viele Riffs und Teile, dafür umso mehr Details – gerade an den Keyboards und Synthis – vorhanden sind.

Das ist absolut korrekt. Dieses Album wurde aus der Perspektive einer Band geschrieben, die nicht mehr viel tourt. Wir hatten im Vorfeld keine Möglichkeit die Songs zu präsentieren und konnten somit nicht testen, ob sie auch in den Ohren anderer funktionieren. Uns war es beim Songwriting zu “The Eye Of Every Storm” egal, ob wir die Songs live nachspielen können. Das war gut für uns, wir hatten viel mehr Freiraum zu experimentieren und uns treiben zu lassen.

Zu “Times Of Grace” gab es von eurem Alter Ego TRIBES OF NEUROT eine Bonus-CD, die zeitgleich mit diesem Album abzuspielen ist, um ein multidimensionales Hörerlebnis zu generieren. Dies gelingt euch fünf Jahre später auch ohne eine Bonus-CD.

Das ist ein guter Blickwinkel. Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, aber ich denke du liegst richtig.

Wie wichtig war euch Spontaneität im Songwriting-Prozess? Ihr habt wohl viel im Proberaum gejammt.

Scott Kelly im Jahre 2001
SCOTT: Ich war die ganzen Aufnahmen über total besoffen.

Gar nicht mal so viel. Wir jammen allgemein wenig. Die Ideen, die wir haben ergeben sich nicht durch jammen, aber wir nutzen dies um die verschiedenen Teile eines Songs zusammenzufügen und den Fluss des Stückes in eine eindeutige, richtige Richtung zu bringen.

Noah (Landis, Keyboarder – Anm. d. Verf.) und seine Synthis stehen mehr im Vordergrund als jemals zuvor. Konnte sich er mehr austoben?

Nun, Dave (Edwardson, Bassist – Anm d. Verf.) spielt ja auch einige Keyboards und wir nutzten einige Gitarreneffekte, die wie Keyboards klingen, also hat jeder großen Anteil am Songwriting. Wir fühlen uns nun einfach freier und fühlen uns gut, mit neuen Elementen zu experimentieren.

Ich dachte, das lag daran, dass Steve (von Till, Gitarrist und Sänger – Anm. d. Verf.) und du Soloalben und diverse Projekte wie BLOOD AND TIME zum austoben hattet.

Die ganzen Projekte sind einem Baum gleichzusetzen, NEUROSIS stellt den Stamm dar, die Projekte verschiedene Zweige. NEUROSIS ist eine gänzlich andere Sache, denn hier kollidieren die Visionen von fünf Individuen. Die Soloprojekte hingegen sind viel persönlicher, da sie aus der Feder eines einzelnen Bandmitgliedes stammen. Wir haben einfach viele Ideen, die nicht wirklich zu NEUROSIS passen und die wir nicht verbiegen wollen. Abgesehen davon: Manchmal haben wir als Kollektiv die besten Ideen.

Dennoch glaube ich, dass ihr heute nicht an diesem Punkt eurer Entwicklung wärt, hättet ihr die Soloalben nicht.

Nein, zweifellos bedeuten sie sehr viel für uns persönlich und auch für NEUROSIS, vor allem da Steve und ich dadurch nun viel besser singen, wir lernten wirklich viel. Das hatte sehr großen Einfluss auf NEUROSIS. Es hat viele unserer Songs befreit, das macht unsere Vision umso klarer.

Selbst bei einem Projekt wie BLOOD AND TIME war ein weiteres Bandmitglied – Noah – beteiligt, seid ihr so miteinander verwachsen?

Ja, wir sehen Dinge auf sehr ähnliche Art und Weise, es ist sehr einfach und kreativ mit ihm zu arbeiten. Gerade für BLOOD AND TIME, das hauptsächlich von mir aus geht, ist er eine große Bereicherung. Aber irgendwie ist es auch logisch, dass wir so gut zusammen passen, wir kennen uns seit langer Zeit und arbeiten ebenso lange zusammen.

BLOOD AND TIME ist ebenso wie eure anderen Soloalben sehr songorientiert.

Das ist auch die Idee dahinter. Wir wollten simple Songs schreiben und uns in diesem Metier austoben. Vielleicht wären Ideen daraus auch mit NEUROSIS möglich gewesen, aber es würde den Eindruck wohl verwässern. Der Geist von NEUROSIS besteht daraus, dass die Visionen von fünf Individuen zu einer verschmelzen und nicht daraus, dass ein Ego seine Parts durchbeißt.

Ende letzten Jahres gab es ein wirklich ungewöhnliches Projekt von NEUROSIS. Ihr habt mit der ehemaligen SWANS-Sängerin Jarboe das schlicht betitelte Album “Neurosis & Jarboe” veröffentlicht. Seid ihr schon lange in Kontakt miteinander?

Ja, wir sind seid langer Zeit befreundet und wir konnten dieses Projekt, das wir schon lange geplant hatten, endlich realisieren. Das lag sicherlich daran, dass wir fast nicht aufgetreten sind und viel zu Hause in aller Ruhe arbeiten konnten.

Das Album ist selbst für NEUROSIS-Verhältnisse sehr ungewöhnlich. Es klingt teilweise sehr nach Trip Hop, ist sehr elektronisch und ruhig.

Ich habe darüber noch nicht in dieser Art und Weise nachgedacht, aber du könntest recht haben.

Auf “Spirit Bound Flesh”, deinem Soloalbum ist ein Acapella-Stück enthalten, das “Sacred Heart” heißt. Wie kam es, dass du dich so entblößt hast?

Nun, die Musik dazu passte irgendwie nicht mehr so gut dazu und da mir der Text sehr viel bedeutet sang ich ihn ohne Musik. Das kam mir einfach so in den Sinn, es war einfach eine Vision.

NEUROSIS im Jahre 2001
Wenn wir zusammenarbeiten und neue Musik erschaffen herrscht Frieden!

Verzeih mir bitte, aber du klingst in diesem Song wirklich betrunken, was ihn umso trauriger klingen lässt.

Du liegst mit deiner Vermutung richtig, ich war die ganzen Aufnahmen über total besoffen. Als ich die Scheibe zum ersten Mal hörte war ich auch betrunken, aber gleich danach habe ich damit aufgehört. Ich habe seit drei Jahren weder Alkohol getrunken noch Drogen genommen.

Warum hast du aufgehört damit?

Weil ich eben nicht aufhören konnte. Ich musste permanent betrunken oder high sein. Um ehrlich zu sein, Drogen ruinierten mein Leben. Ich musste damit aufhören, ich habe nur dumme Sachen gemacht, ich musste für mich selbst und für meine Kinder aufhören.

Dafür verdienst du großen Respekt, zu dieser Einsicht gelangt nicht jeder.

Danke. Und es fühlt sich wirklich gut an. Ich habe vor zwei Monaten sogar mit dem Rauchen aufgehört, das ist ein tolles Gefühl. Ich will nicht für immer leben, aber ich will mich die Zeit auf dieser Erde wenigstens gut fühlen.

Der psychedelische Teil bei euren letzten Werken “A Sun That Never Sets” und “The Eye Of Every Storm” ist geblieben, auch wenn du keine Drogen mehr nimmst.

Die schlechten Seiten von Drogen sind sicherlich, dass sie Schäden dauerhaft hinterlassen. Das kann aber auch Gutes verheißen. Nach wie vor fühle ich den psychedelischen Teil von NEUROSIS so stark wie zuvor und ich denke in der selben Art und Weise, wie ich noch vor fünf Jahren gedacht habe.

Du hast sehr viele Tätowierungen, deine Arme sind komplett voll bis zu den Handrücken. Eure Artworks schreien geradezu danach, Motive abzugeben, ich habe übrigens eure Sonne von “A Sun That Never Sets” auf den Bauch tätowiert.

Nun, ich bin von beidem sehr beeinflusst, ich war auch schon tätowiert, bevor ich mit dem Musikmachen begann. Für mich sind sowohl Musik als auch Tätowierungen dazu da mein Inneres nach Außen zu tragen. Den Bauch habe ich mir auch letztes Jahr stechen lassen, das schmerzte nicht schlecht.

Was “The Eye Of Every Storm” unter anderem zu einem sehr intimen Album macht ist, dass Kris Force (von AMBER ASYLUM, Gastviolinistin auf jeder Veröffentlichung seit “Souls at Zero” – Anm. d. Verf.) nicht mit von der Partie ist, diesmal seid ihr Fünf “alleine”.

Das stimmt, sie ist nicht dabei, zum ersten mal seit mehr als zehn Jahren. Beim nächsten mal ist sie wahrscheinlich wieder dabei. Dieses Mal brauchten wir keine Violine, das fanden wir im frühen Stadium der Songs schon heraus.

Habt ihr dem recht ruhigen Album entsprechend den Titel ausgesucht, da es im Auge des Sturms auch ruhig ist?

NEUROSIS: 'The Eye Of Every Storm' Cover
Das ‘The Eye Of Every Storm’ Cover

Ja, wenn wir zusammenarbeiten und neue Musik erschaffen herrscht Frieden, es ist irgendwie ruhig. Wir sind von der Außenwelt abgeschnitten. Da ist keine Hektik, wir sind im Proberaum, in unserem Auge des Sturms wo wir unberührt bleiben und nichts mitkriegen.

Auch wenn die schweren Stellen nicht so heavy sind wie auf “Through Silver In Blood”, stellenweise ist “The Eye Of Every Storm” dennoch sehr heftig. In Verbindung mit den ruhigen Stellen habt ihr das dynamischste Album bislang erschaffen.

Wir haben dieses Mal sehr viel Wert auf Dynamik gelegt, damit das Album zu keiner Stelle uninteressant wird oder dahinplätschert.

Ist die Rückkehr der Tribal-Parts auf “Left to Wander” ein Zugeständnis an NEUROSIS vor zehn Jahren?

Nein, es ist viel einfacher. Wir hörten diesen Song und fühlten, dass dieser Song einen perkussiven Beat benötigte.

Selbiges gilt wohl auch für die Sprachsamples auf “Shelter”?

Ja.

Ihr habt mit Steve Albini nun zum vierten Mal aufgenommen. Ihr müsst von seiner – zugegebenermaßen tollen – Arbeit sehr überzeugt sein.

Ja, er ist großartig. Mehr noch, meiner Meinung nach ist er der Beste. Wir denken auf ähnliche Art und Weise, kennen uns in seinem Studio schon gut aus und wir haben ähnliche Backgrounds. Mit ihm zu arbeiten ist, wie in einem unbegrenzt großen Geschäft ohne finanzielle Limits einzukaufen. Wirklich großartig.

Steve Albini verleiht den Alben, die er produziert einen sehr charakteristischen und warmen Sound. Er nimmt wohl noch analog und nicht mit digitalen Geräten auf.

Es stimmt, es klingt magisch, was aus seinem Studio kommt. Außerdem weigert er sich tatsächlich, sich den digitalen Standarts anzupassen. Es klingt einfach nichts steril, was ihm noch viele Pluspunkte bringen wird.

Nach “Enemy Of The Sun”, also vor mehr als zehn Jahren, war der letzte Besetzungswechsel, als Noah Landis dazukam.

Noah trat der Band zwar erst nach “Enemy Of The Sun” bei, dennoch ist er eigentlich schon länger in der Band. Dave und Noah kennen sich von klein auf, er stand der Band schon sehr lange nahe. Wir konnten damals auch nur einen Musiker aufnehmen, der uns so nahe stand und der so in NEUROSIS involviert war, wie Noah. Als Steve 1988 beitrat, fand so gesehen der letzte Besetzungswechsel statt.

Nach mehr als 15 Jahren, in denen ihr zusammen Musik macht wäre es undenkbar, dass ein Musiker die Band verlässt.

Korrekt.

Eure Soloalben und Projekte veröffentlicht ihr über euer bandeigenes Label Neurot Recordings. Wie seid ihr auf die Idee gekommen, ein Label zu gründen?

Wir wollten schon lange totale Kontrolle über jeden Aspekt haben, der unsere Musik betrifft. Als sich die Gelegenheit bot, zögerten wir nicht länger. So frei zu sein ist großartig.

Ihr habt auch wirklich hervorragende Künstler auf eurem Label. Wären die oder Neurot Recordings eigentlich bekannt, würden nicht NEUROSIS dahinter stecken?

Wahrscheinlich nicht. Ich glaube, die Fans merken uns an, dass wir als Musiker absolut ehrlich sind. Warum sollten wir sie mit unserem Label bescheißen oder Bands signen, die schlecht wären? Das kommt noch hinzu und ist immens wichtig.

Scott, vielen Dank für dieses Gespräch.

Layout: Uwe

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